Der Regenwurm und der Soldat
An einem regnerischen Tag stand auf einer niedrigen Gartenmauer ein Plastiksoldat, in sehr strammer Haltung, das Gewehr über der Schulter.
Ein Junge hatte ihn tags zuvor vergessen, nachdem er Krieg gespielt hatte. - Als der Soldat unter sich in einem Beet einen Regenwurm vorbeikriechen sah, rief er : „ Na, du Kriechling, wohin soll‘ s denn gehen?“
„Wer bist denn du überhaupt ?“ rief der Regenwurm zurück und hörte auf zu kriechen. „Ich bin ein Soldat, das sieht man doch; einen Soldaten erkennt doch jeder sofort! Ich trage doch einen Stahlhelm, eine Uniform und ein Gewehr!“ „Und jeder weiß“, antwortete der Wurm, „daß Regenwürmer keine Augen haben; woher soll ich also wissen, daß du ein Soldat bist ?“ „Keine Augen, keine Beine, keine Haare, na, du Kümmerling!“ höhnte der Soldat. „Ich bin weder ein Kriechling noch ein Kümmerling“, entgegenete der Wurm, „ich bin ein Regenwurm, und ich habe sogar einen lateinischen Namen : Lumbricus.“ „Auch noch Ausländer, hätt‘ ich mir doch denken können , und keine Ahnung davon, was ein richtiger Soldat ist! Was ist gegen einen Soldaten schon ein haarloser, schleimiger Regenwurm, der nicht einmal Beine und Augen hat und jeden Augenblick vom Schnabel einer Henne oder einer Amsel zerhackt und stückweise verschlungen werden kann! Der nicht einmal weiß, wie seine Feinde aussehen ! Man muß doch ein Feindbild haben! Ich habe eins, und jeden, der mir was tun will, jeden, der mich auch nur schräg ansieht, den schieße ich über den Haufen! Und wenn es viele Feinde sind, die schieße ich alle über den Haufen, mit meinem Schnellfeuergewehr, 600 Schuß pro Minute !“
„Du könntest ja wohl stundenlang vom Totmachen erzählen. – Ich erzähle Dir jetzt mal vom Leben ! – Wir Regenwürmer dienen dem Leben, und zwar schon seit unvorstellbar langer Zeit, lange schon,sehr,sehr lange, bevor es überhaupt Soldaten gab. - Wir durchwühlen das Erdreich kreuz und quer und können bis zu zwei Meter tief in die Erde eindringen.“ „Ach, nee!“ rief der Soldat, „dem Leben dienen, da unten ? Da unten sind die Toten, mein Lieber!“ „Laß mich doch ausreden! – Wenn wir in die Erde eindringen, entstehen Röhren, die der Luft, der Wärme, dem Wasser, Zutritt zur Erde verschaffen, so daß der Humus für viele Arten von Kleinstlebewesen überhaupt erst bewohnbar ist, bewohnbar für Heere von Ameisen und Käfern, für Insekten , Schnecken und viele andere.“ „Ja, ja, im Dreck haust ihr alle! Nur gut , daß man euch meistens nicht zu Gesicht bekommt!“ „Von wegen Dreck! Wir sorgen dafür, daß wertvoller, fruchtbarer Humus entsteht, wenn wir da unten die Erde in uns hineinsaugen, ihr entnehmen,was uns nährt und sie dann ausscheiden.“ „Aha, ausscheiden! Scheißer seid ihr also auch noch, unterirdische Scheißer!“
„Typisch für einen, wie du einer bist, so etwas zu sagen. Etwas anderes fällt dir wohl nicht ein. – Die Erde, die wir ausscheiden, mein lieber Mann, das ist Erde in feinster Krümelform, kostbarster Humus ist das! Und dieser Humus, mein lieber Freund, enthält doppelt so viel Kalk und Phosphor, dreimal so viel Kali, sechsmal so viel Magnesium und siebenmal so viel Stickstoff wie die wertvollste Gartenerde! Und diese Regenwurmerde, jawohl, Regenwurmerde, die ist kaum zu erschöpfen. Sie erhält sich in ihrer Qualität über Jahrzehnte! Kein Regen kann sie auswaschen! Und diese herrlich fruchtbare Erde bedeutet Nahrung und somit Leben! Wer lebt, braucht etwas zu essen, jeden Tag! Regenwurmerde garantiert Leben, weltweit! Und ermöglicht Nahrung und Sattwerden für alle, weltweit genug zu essen für alle, wenn sie teilen! – Wer leben will, überleben will, und dazu hat jeder das Recht, braucht kein Feindbild, sondern muß davor bewahrt werden,nicht zu verhungern! Und dafür sorgen wir Regenwürmer, Tag für Tag! In einem einzigen Quadratmeter Erde, da leben zwischen 89 und 544 Regenwürmer." „Aufladen!“ schrie der Soldat, „alle 500 Regenwürmer aufladen auf einen Lastwagen und auf den Hof einer Hühnerfarm kippen! Was für ein Fest für das Hühnervolk!“ Der Soldat hatte seinen Mund gerade wieder zu, als eine Hand nach ihm griff. Es war die Hand eines halbwüchsigen Mädchens, das auf der anderen Seite der Gartenmauer vorüberging. Das Mädchen, das den Soldaten im Vorbeigehen mitgenommen hatte, sah ihn kurz an. „Der Krieg ist aus“, sagte es dann, hob den Deckel eines Mülleimers, der neben einer Gartentür stand, und warf den Soldaten in den Eimer. - Als das Mädchen den Eimerdeckel zugeworfen hatte, sagte es leise : „Peace“.