Das Attentat
Der Löwe hatte befohlen, daß alle Tiere vor seiner Höhle erscheinen müßten.
Wie üblich, ließ der Löwe einige Zeit auf sich warten. Schließlich aber füllte seine mächtige Gestalt den Höhleneingang, und das Murmeln und Brummen und Grunzen und Zwitschern verstummte plötzlich. - Zur allgemeinen Überraschung nahm der Wolf ganz in der Nähe des Löwen Platz.
„Ich habe euch etwas Wichtiges zu sagen!“ ließ sich der Löwe vernehmen und wuchs dabei zusehends ein Stück in die Höhe. – Der Wolf ließ kein Auge von der Versammlung. – Das Huhn bekam einen schiefen Hals, der Hase ließ seine Löffel steiler werden, und der Storch hob ein Bein. – „Ich bin dieser Tage mit knapper Not dem sicheren Tode entronnen“, fuhr der Löwe fort. „Jäger sind meiner Spur gefolgt, und nur ein plötzlich hereinbrechendes Unwetter verhinderte, daß sie bis zu meiner Höhle vordringen konnten. Diese werde ich nun in Zukunft für längere Zeit nicht mehr verlassen. Allerdings denke ich nicht daran, in irgendwelcher Weise Not zu leiden. Ihr, als meine Untertanen, werdet mir alles verschaffen, was mein Herz begehrt. Wie ihr das macht, bleibt euch überlassen. Ihr werdet euch im Dienst abwechseln. – Der Wolf wird dafür sorgen, daß alles seine Richtigkeit haben wird. Ich glaube, das genügt fürs erste. – Höre ich irgendwelche Klagen, so werde ich persönlich eingreifen. – Ihr könnt gehen !“ - Der Löwe verschwand im Dunkel seiner Höhle, und der Wolf fogte ihm erhobenen Hauptes.
Unter Murren und lebhaften Gesprächen zogen die Tiere von dannen. Besonders die Krähe konnte nicht genug bekommen mit Schelten und Zetern. Aber auch der Bär brummte ärgerlich vor sich hin, und die Eule schüttelte unaufhörlich den dicken Kopf. – Als die Tiere, immer noch miteinander ziehend, ein gutes Stück von der Höhle des Löwen entfernt waren, sprang plötzlich der Fuchs auf einen Baumstumpf und bar um Gehör. „Wir dürfen uns das nicht gefallen lassen!“ rief er mit heller Stimme. „Der Löwe hat uns ohnehin lange genug beherrscht und immer wieder schikaniert. Jetzt will er uns vollends ganz unterdrücken.“ – Ein beifälliges Gemurmel erfüllte den Wald. – „Ich habe einen Plan“ , meinte der Fuchs geheimnisvoll. „Es hängt aber alles davon ab, daß ihr alle tut, was ich euch sage.“ – Der Hals des Huhns wurde wieder schief, die Löffel des Hasen wieder steil, und der Storch zog wieder ein Bein an. – „Der Löwe muß sterben“, sagte der Fuchs in die Stille hinein. – Das Schwein rief: „Sehr richtig!“ Die Eule blickte nachdenklich ins Moos, der Adler hob seine Schwingen, das Pferd schnaubte, der Hase sah sich nach allen Seiten um, der Bär schrie laut: „Jawohl!“ und schließlich riefen alle Tiere : „Der Löwe soll sterben!“
Der Fuchs entwickelte nun seinen Plan. – Über der Höhle des Löwen, so meinte er, befinde sich ein überhängender Felsbrocken, der etwas lose sei. Ein kräftiger Stoß genüge, um ihn genau vor den Höhleneingang hinabzustürzen. – Es gelte nun, den Löwen irgendwann einmal unter irgendeinem Vorwand vor die Höhle zu locken. Man müsse ihn glauben machen, einer seiner Untertanen wolle die heute auferlegte Pflicht nicht erfüllen. Das Volk verlange nun die Bestrafung des Übeltäters durch den Herrscher persönlich. Der Löwe müsse dann am Eingang der Höhle vor seinen versammelten Untertanen erscheinen. – Währenddessen solle der Ochse unbemerkt von hinten den Berg besteigen, in dem sich die Höhle befinde und den losen Felsblock schließlich auf ein verabredetes Zeichen hinunterstürzen. In diesem Augenblick solle der Bär dem Wolf, der ja selbstverständlich auch zugegen sein werde, mit seiner Pranke den Garaus machen. Um der Freiheit willen sei die Beseitigung des Wolfes natürlich ebenfalls absolut notwendig.
Alle Tiere waren voll des Lobes über den vortrefflichen Plan des Fuchses, und man beschloß, den Plan in vier Wochen durchzuführen. Bis dahin wolle man die Anweisungen des Löwen genauestes befolgen.
Alle gingen auseinander, und der Fuchs schnürte elegant und vergnügt seinem Bau zu. – Nur er allein wußte, daß der Felsblock nicht nur den Löwen, sondern auch den Wolf und dazuhin noch den Bären unter sich begragen würde. Der Fuchs sah an sich herunter und berauschte sich an der Vorstellung, wie gut ihm sein roter Rock als Königsmantel stehen würde.
Endlich war der Tag der Befreiung gekommen. - Die Tiere zogen zur Höhle des Löwen. In ihrer Mitte führten sie das Pferd, das eine schuldbewußte Miene aufgesetzt hatte. – Vor der Höhle saß der Wolf mit funkelnden Augen. Die Tiere bildeten einen Halbkreis vor dem Höhleneingang, hielten sich aber in respektvoller Entfernung. – Der Ochse war bereits auf Umwegen auf den Berg gestiegen und wartete auf das vereinbarte Zeichen, das ihm der Hund durch zweimaliges kurzes Bellen zu geben hatte. Auch der Bär hielt sich schon bereit. - Der Fuchs trat einen Schritt vor, verneigte sich tief und rief in die Höhle hinein : „Großer König, verzeihe die Störung! Aber alles Volk hat sich hier vor deiner Höhle versammelt, um einen Verbrecher anzuklagen, den du mit eigener Hand bestrafen sollst!“ – Da kam der Löwe heraus und setzte sich im Höhleneingang nieder. Der Wolf nahm dicht bei ihm Platz. – „Das Volk hat mein Ohr immer für seine Belange offen gefunden“, sagte der Herrscher in gnädigem Ton und blinzelte in die Sonne. „So sprich nun du, Fuchs, im Namen des Volkes als Ankläger!“ – „Mächtiger König“, fuhr der Fuchs in getragenem Ton fort, „sieh hier das Pferd! Es hat sich geweigert, deinen Forderungen nachzukommen! Welch ein verabscheuungswürdiges Verhalten! Welch ein wahrhaft schweres Verbrechen!“ – In diesem Augenblick bellte der Hund auf, und schon stürzte sich der Bär auf den Wolf. – Der Fuchs aber sprang behend zurück, und alle sahen, wie ein mächtiger Felsblock mit dumpfem Poltern vor den Eingang der Höhle stürzte. – Der Löwe und der Bär waren nicht mehr zu sehen. – Dem Fuchs war indessen, wenn auch mit Entsetzen, nicht entgangen, daß der Wolf, noch bevor ihn der Bär erreicht hatte und bevor der Felsblock herunterstürzte, auf den Hund zugeschossen war, um diesem wegen seines ungebührlichen Bellens ans Bein zu fahren. – Noch war der Wolf mitten unter den Tieren wie in einer Schafherde, als der Fuchs blitzschnell auf den heruntergestürzten Felsblock sprang und , so laut er konnte, schrie: „ Nieder mit der Revolution des Bären! Nieder mit allen Verrätern! Es lebe unser neuer König, seine Majestät , der Wolf!“ – Der Wolf stand mit leuchtenden Augen und blitzenden Zähnen vor den Tieren, die – starr vor Schrecken – kaum zu atmen wagten.
Das Huhn bekam einen schiefen Hals, der Hase ließ die Löffel steiler werden, der Storch hob ein Bein. – „Sehr richtig!“ rief das Schwein.