Waldweihnacht

Wenn Lydia den anderen Wichtiges mitzuteilen hatte, setzte sie sich auf den Tisch, strich sich mit den schmalen Händen das dichte, dunkle Haar aus dem Gesicht und ließ sich dann mit heller Stimme vernehmen, so laut, daß es nicht nur die Jungen hörten, die das hellhäutige, katzenäugige Mädchen in jeder Pause in dichtem Pulk umlagerten, sondern alle im Klassenzimmer. Ihre Zwillingsschwester Bettina komme heute noch zu Besuch ins Internat. Sie gehe dann mit zur Waldweihnacht heute abend, bleibe über Nacht hier und fahre dann morgen, am Reisetag, mit ihr zusammen nach Hause in die Weihnachtsferien. –  „Man nehme zur Kenntnis“, rief Detlef Schulte, „Lydia Sommerfeldt im Doppelpack!“ „Quatsch“, fauchte Lydia, „ wir sind keine eineiigen Zwillinge; sie sieht mir kaum ähnlich!“

Es läutete jetzt zur zweiten Stunde, und der Pulk der Jungen löste sich schnell auf. – Bernd hatte, an seinem Platz sitzend, Lydia die ganze Zeit angesehen. So wie fast alle Sechzehn – Siebzehnjährigen an der Schule stand auch er im Bannkreis dieser Lydia Sommerfeldt, vor allem seit dem letzten Sportfest. Er hatte damals als letzter Schwimmer der Klassenmannschaft die Schul–Schwimmstaffel über 4×100 Meter für die Klasse entschieden. Als er aus dem Wasser gestiegen war, waren viele seiner Mitschüler herbeigeeilt, allen voran Lydia, die ihn stürmisch und mit leuchtenden Augen umarmt hatte, ungeachtet dessen, daß er ja plitschnaß gewesen war. – Immer und immer wieder hatte er sich jene Umarmung ins Gedächtnis gerufen: Lydia Sommerfeldt hatte ihn umarmt, ja, umarmt, und das in aller Öffentlichkeit! Sie hatte i h n umarmt, sie ihn, nicht er sie; das kam noch dazu. Es war das einzigemal gewesen, daß ihr Blick ganz allein auf ihn gerichtet war, sie ihm direkt in die Augen gesehen hatte. Ansonsten war es zu keinem nennenswerten Blickkontakt gekommen, obwohl er immer und immer wieder nach ihr gesehen und auch geschielt hatte, so wie auch jetzt wieder, während des Englischunterrichts. – Er konnte ihr Profil von seinem Platz aus sehen, wenn sie nicht ins Buch schaute oder schrieb, denn dann verdeckte ihr Haar das Gesicht. – Im Nu war die Englischstunde vorüber, und
auch die dritte und die vierte Stunde schienen Bernd heute nicht lange zu dauern. Die Vorfreude auf die Waldweihnacht hatte sicher damit zu tun. – Ab der fünften Stunde war frei; um 16 Uhr würde man sich treffen, um zur Waldweihnacht aufzubrechen.

Als externer Schüler fuhr Bernd zum Mittagessen nach Hause, mit dem Fahrrad, da noch kein Schnee gefallen war. – Schon bald nach dem Essen begann es jedoch zu schneien, und als es nach etwa einer Stunde aufhörte, lag der Schnee mehrere Zentimeter hoch.

Bernd ging gegen 15 Uhr aus dem Haus, ging zu Fuß durch das Städtchen, dann in Richtung Schule, die etwa einen Kilometer vom Stadtrand entfernt und in einem ehemaligen Kloster untergebracht war. Als er das Städtchen verlassen hatte, tauchten schon bald die Klosterkirche und die übrigen Gebäude auf, in noch ungewohntem winterlichem Weiß, so auch der Wald am Steilhang hinter dem Kloster.

Bernd ging gegen 15 Uhr aus dem Haus, ging zu Fuß durch das Städtchen, dann in Richtung Schule, die etwa einen Kilometer vom Stadtrand entfernt und in einem ehemaligen Kloster untergebracht war. Als er das Städtchen verlassen hatte, tauchten schon bald die Klosterkirche und die übrigen Gebäude auf, in noch ungewohntem winterlichem Weiß, so auch der Wald am Steilhang hinter dem Kloster.

Als Bernd ankam, hatten sich schon zahlreiche Mitschüler versammelt; in gelöster, heiterer Stimmung stand man gruppenweise beisammen und hatte viel miteinander zu reden. – Immer mehr Schülerinnen und Schüler kamen herbei; Lydia war unter den letzten, und neben ihr ging ihre Schwester. Die beiden sahen sich kaum ähnlich. Bernd erinnerte sich daran, daß Lydias Schwester Bettina hieß. Sie war zwar , wie auch Lydia, ziemlich groß, hatte aber nicht so dunkles und dichtes Haar, nicht diese helle Haut und nicht solche Katzenaugen wie Lydia. Lediglich Bettinas hohe Stirn und ihre Nase wiesen eine gewisse Ähnlichkeit mit der Schwester auf. – Man sah es Bettina an, daß es ihr unangenehm war, von allen Umstehenden ausgiebig gemustert zu werden.

Als man schließlich zur Waldweihnacht aufbrach, war es noch einigermaßen hell, aber es dauerte nicht lange bis zum Einbruch der Dämmerung. – Schon blitzten die ersten Taschenlampen auf. Man erreichte einen schmalen Pfad, der ziemlich steil nach oben führte. Alle mußten nun hintereinander gehen. Bernd hatte sich bisher in der Nähe der beiden Schwestern gehalten, und als der Aufstieg auf dem Pfad begann, war nur noch Bettina zwischen ihm und Lydia. Wenn sich später auf der Waldlichtung viele Jungen um Lydia scharen würden, wäre er bestimmt bei denen, die Lydia am nächsten standen.

Als man etwa fünf Minuten auf dem Pfad nach oben gestiegen war, rutschte plötzlich Bettina vor Bernd auf dem Pfad ab und wäre auch noch ein Stück weit auf der steilen Halde hinabgeglitten, wenn er nicht sehr schnell mit beiden Händen nach ihr gegriffen und sie festgehalten hätte. Er zog sie langsam nach oben. Als sie wieder richtig auf den Beinen war, kippte sie plötzlich auf dem steilen Pfad leicht nach hinten. Während sie für einen Augenblick die Orientierung verloren hatte, lehnte sie sich an Bernd; ihr Kopf lag kurz an seiner Schulter, und er spürte an seiner Wange ihr Haar und durch ihr Haar hindurch ihre Körperwärme. -  Als sie wieder aufrecht stand, bedankte sie sich bei ihm; dabei sah sie ihn mit großen Augen an, und es war ihm auf einmal, als ob er auf diesen Blick, der ganz tief in seinem Inneren ankam, schon lange gewartet hätte.   Nachdem sie sich wieder umgewandt hatte, um weiterzugehen, blickte Bernd während des weiteren Aufstiegs eine Zeitlang unverwandt auf Bettinas schmale Schultern und wünschte sich auf einmal mit heißem Herzen, sie sollte sich doch umdrehen, damit er vielleicht noch einmal in ihre Augen sehen könnte, und es wurde ihm plötzlich bewußt, daß es ein Blick von Bettina war, den er sich so sehr wünschte, und nicht von Lydia.

Als man schließlich das Ziel der Wanderung, die Waldlichtung, erreichte, brannten schon zahlreiche Kerzen auf den verschneiten Zweigen mehrerer kleinerer Tannenbäume am Rand der Lichtung, die im Schnee wie ein geheimnisvoll erleuchteter Festsaal wirkte.
Wie erwartet, drängten sich mehrere Jungen um die beiden Schwestern, vor allem auf Lydias Seite. Bernd blieb nicht nur dicht bei Bettina, er wandte sich ihr auch zu und fragte sie: „Gefällt dir das?“ „Oh, ja, sehr“, antwortete sie und sah ihn an, und als Bernds Blick in ihre weit geöffneten Augen geglitten war, mußte er erst einmal tief einatmen, bevor er sprechen konnte. Dann sagte er: „Man wird jetzt gleich singen, hoffentlich gefällt dir das auch.“ -  Es verwirrte ihn schon, tat ihm aber auch irgendwie gut, wie selbstverständlich es für ihn gewesen war, bei Bettina zu bleiben und er gar nicht versucht hatte, an Lydia heranzukommen. – „Vom Himmel hoch, da komm ich her“, sang man. Bernd blickte über die Lichtung, während er auch sang, schaute wieder zu Bettina hinüber, sah ihr von Schnee und Kerzenlicht erhelltes Profil, und es war ihm, als spüre er wieder, wie auf dem Pfad, die Körperwärme des Mädchens.

Aus dem Kreis der Umstehenden lösten sich zwei Jungen, zwei von den Zwölf– oder Dreizehnjährigen und traten mehrere Schritte vor. Der eine hielt ein aufgeschlagenes Buch in der Hand. Bernd flüsterte Bettina zu: „Er wird gleich aus der Bibel lesen, die Weihnachtsgeschichte.“ Bettina nickte lächelnd. – Der andere von den beiden Jungen trug eine brennende Kerze, deren Lichtschein auf die aufgeschlagenen Seiten der Bibel fiel, und durch die Stille ringsum kam die Botschaft des Lukas – Evangeliums bei den Zuhörern an: „In jenen Tagen ging ein Befehl aus vom Kaiser Augustus…“

Nach dem Weihnachtsevangelium sangen Schüler und Lehrer das Lied: „Es ist ein Ros entsprungen.“ – Und nun trat noch einmal jemand vor, diesmal eine Schülerin aus der Abitursklasse. Bernd kannte sie, er hatte sie schon wiederholt bei Aufführungen des Schülertheaters in Hauptrollen erlebt: Helga von Kielpinski, mit ihren neunzehn Jahren um einiges älter als Bernd, für ihn fast schon eine junge Frau. Sie trug eine Pelzmütze, unter der ihr langes Haar hervorquoll. Bernd wußte, daß es rotblond war und daß Helga graue Augen hatte. „Die braucht kein Buch“, raunte Bernd Bettina zu. – Und Helga sprach, sprach sehr schön, mit einer leicht kehligen, faszinierenden Stimme. Sie trug Rilkes Gedicht „Advent“ vor:

„Es treibt der Wind im Winterwalde
die Flockenherde wie ein Hirt, …“

Bernd kannte das Gedicht aus dem Deutschunterricht, und während Helga sprach, fiel ihm ein, was seine Mitschüler und er damals aufgrund von Denkanstößen des Deutschlehrers in diesem Gedicht entdeckt hatten:
freudige Erwartung der kommenden Weihnacht als einer heiligen Nacht, einer Nacht wie keine andere, einer Nacht voller Gnade, einer Nacht der offenen, hochgestimmten Herzen – entsprechende Wortwahl und Verstärkung der Aussage durch Reime und die Verwendung von Vokalen:

„…und manche Tanne ahnt, wie balde
sie fromm und lichterheilig wird;“

Rilkes wundervolle Worte, insbesondere die großartige Wortschöpfung „lichterheilig“, erreichten eine aufmerksam lauschende Schulgemeinde, erreichten hinter ihr auch die bereits „lichterheiligen“ Tannen mit den brennenden Kerzen und dahinter die in der Nacht kaum sichtbaren dunklen Tannen, zu denen schließlich der weitere Wortlaut des Gedichts paßte:

„und lauscht hinaus. Den weißen Wegen
streckt sie die Zweige hin – bereit,
und wehrt dem Wind und wächst entgegen
der einen Nacht der Herrlichkeit.“

„Stille Nacht“ sang die Schulgemeinde nun, und nachdem der Schulleiter eine kurze Ansprache gehalten und allen eine fröhliche Weihnacht gewünscht hatte, sang man noch einige Weihnachtslieder.

Einmal wandte sich Bettina Bernhard zu: Ein Lächeln schimmerte zu ihm herüber, und dieses Lächeln kam aus ihren Augen. Und das Licht in ihrem Blick  drang sanft in sein Inneres. Da wurde ihm heiß im Gesicht, ganz heiß. – Bettina, die unscheinbare Bettina, die unauffällige, zurückhaltende Bettina, war ihm näher, als es ihre schöne Schwester je gewesen war. Kein Zweifel, Bettina war es, ja, Bettina, die sein Herz mehr und mehr berührt hatte, mehr als Lydia je zuvor.

Und Bernd begriff, Lydia war von vornherein schön, richtig schön, äußerlich faszinierend schön, aufregend schön, aber ihre Schönheit entfaltete sich nicht von innen heraus. Bettina war nicht von vornherein schön; sie wurde erst schön durch etwas, das aus ihrem Inneren kam: durch einen Blick, durch ein Lächeln, durch die Art, wie sie sprach.

Als Schüler und Lehrer nach dem letzten Lied die Lichtung langsam verließen und sich einige Jungen zwischen Lydia und Bettina schoben, schluckte Bernd trocken, faßte sich dann aber ein Herz und fragte Bettina: „Kommst du mal wieder her?“ „Weiß noch nicht, vielleicht.“  „Ich, ich… schreib dir mal, soll ich?“  „Ja, doch, ich würde mich freuen.“ Von jäh aufwallender Freude überflutet, ging Bernd schweigend neben dem Mädchen her. – Plötzlich wurde er von einem Lehrer angesprochen, der ihn fragte, was er in den Ferien mache und ob er auch mit seinem Vater auf die Jagd gehen würde. Es entwickelte sich ein Gespräch, und Bernd verlor Bettina und auch Lydia aus den Augen.

Nur noch einmal sah er die beiden Mädchen später, aber nur von weitem, als man den Pfad wieder hinabgestiegen und schon nicht mehr weit vom Kloster entfernt war. Da ihn noch einige Mitschüler in kurze Gespräche verwickelten, gelang es ihm nicht mehr, zu den beiden Schwestern aufzuschließen, und als man schließlich die Schule wieder erreicht hatte, konnte er nicht mehr zu Bettina gelangen, da die Zwillinge, zusammen mit vielen anderen, gleich dem Speisesaal zustrebten, wo ein Nachtessen ein-
genommen werden sollte. – Bernd blieb zusammen mit einigen anderen externen Schülern draußen, da das Essen nur für die internen Schüler gedacht war.

Zusammen mit den anderen Externen machte sich Bernd nun auf den Weg zum Städtchen. Seine Begleiter unterhielten sich lebhaft, aber Bernd schwieg, was niemandem auffiel; er dachte die ganze Zeit an Bettina.

Im Städtchen trennte man sich, und Bernd ging schließlich allein seinem Elternhaus zu. Er hätte noch weit, sehr weit gehen können, auf dem weichen Schnee. — Noch heute nacht würde er den Brief schreiben, den Brief an Bettina.

Wolfgang Braun (1998/ 2006)