Brainstorming
Er rollt, er rattert, er schwankt auch manchmal. Und in den Kurven, da kreischt er, zwitschert hin und wieder, schreit auch mal. Und er brummt. Und es ist ein tiefes, irgendwie fröhliches, behagliches Brummen. — Und er lebt!
Natürlich brummt er, er muß ja brummen. Nicht nur, weil er lebt, muß er das, sondern auch wegen seines Namens. - „Roter Brummer“ heißt er nämlich. Und er ist ein Schienenbus. Und rot ist er, ganz rot, und sein Rot ist ein gedecktes Rot. Wäre er knallrot, würde er nicht so gut hineinpassen in die Täler, durch die er fährt, durch die er früher, noch in den sechziger Jahren, täglich mehrmals fuhr und durch die er jetzt wieder von Mai bis Oktober sonntags fährt.
Er wird mich auf die Hochfläche der Schwäbischen Alb bringen, in die Nähe des Gebiets, in dem ich heute wandern möchte. Dieses Gebiet ist ein ehemaliger Truppenübungsplatz, in dem noch vor einigen Jahren Soldaten, Panzer, Geschütze, unterwegs waren und in dem geschossen wurde, in dem Manöver abgehalten wurden und in dem sich nahezu siebzig Jahre lang nur Soldaten aufhalten durften, ausgenommen sechzehn Wanderschäfer mit ihren insgesamt zwölftausend Schafen, wie ich im Internet gelesen habe. Und dort habe ich auch gelesen, warum gerade dieser Truppenübungsplatz, seitdem er von der Bundeswehr aufgegeben wurde, ein Wandergebiet ist, und zwar ein Wandergebiet ganz besonderer Art. „Eine Landschaft aus einer anderen Zeit“, heißt es da, „eine Landschaft, wie sie im 19. Jahrhundert auf der Schwäbischen Alb üblich war, zurückzuführen auf die über hundertjährige militärische Nutzung bzw. darauf, daß das Gebiet von Siedlungen, Straßenbau, Flurbereinigung und intensiver wirtschaftlicher Nutzung weitgehend verschont und gleichzeitig stets durch große Schafherden beweidet wurde.
Der „Rote Brummer“ fährt durch das Schmiechtal, die Schienen verlaufen nahe an der Schmiech, und da sie auf einem Bahndamm verlegt sind, sieht man die Schmiech anders als sonst, wenn man zu Fuß oder mit dem Rad oder mit dem Auto im Tal unterwegs ist; man sieht die Schmiech schräg von oben, sieht zwischen dem grünen Wasserkraut immer wieder bis auf den Grund, denn das Wasser ist glasklar.
Der kleine Bahnhof, vor dem der Schienenbus jetzt hält, sieht eher wie ein Forsthaus aus.
Zwei von den wenigen Fahrgästen steigen aus; niemand steigt ein.
Das Schmiechtal ist durchaus ein schönes Tal: lieblich das Flüßchen mit seinem herrlich klaren Wasser, die vielen Weiden und Büsche am Ufer, die saftigen Wiesen, die dichten Wälder an den steilen Talhängen.
Aber da fahren auch Autos. Und die fahren nicht nur auf der Straße. Die fahren auch über die kleinen Brücken, parken daneben, und die Insassen der Autos bevölkern die Ufer, zertreten das Gras, vertreiben die Fischreiher. - Dort möchte ich nicht wandern.
Jetzt biegt der Schienenbus ins Schandental ein, das sich, vom Schmiechtal abzweigend, bis zur Albhochfläche hinzieht. Das Schandental ist ein Trockental, viel tiefer eingeschnitten als das Schmiechtal, nicht breit; die Talhänge steigen empor wie steile Dächer, sind zunächst noch bewaldet und sind dann, je näher man der Albhochfläche kommt, immer öfter nur noch von Wacholderheiden bedeckt. - Durch dieses Tal bin ich schon oft gewandert und werde ich auch noch oft wandern. In diesem Tal beginnt jener Teil der Alb, den man Schwäbisch Sibirien nennt, und dazu gehört dann auch auf der Hochfläche der ehemalige Truppenübungsplatz, auf dem ich heute vor allem unterwegs sein werde: gehen – sehen – denken.
mein Blick immer wieder auch dem Schienenstrang folgt, vor Augen, was ich einmal irgendwo gelesen habe, daß die Bahn im Schmiechtal und im Schandental die Landschaft nicht zerschneidet, sondern sich in sie einfügt.
Im oberen Bereich einer der Hangheiden werden einige größere Felsen sichtbar. Unter einem von ihnen bewegt sich etwas: ein Fuchs! Jetzt setzt er sich in die Sonne. Vor dem „Roten Brummer“ flieht er nicht, er kennt ihn, weiß, daß er unten im Tal bleibt und bald wieder verschwinden wird.
Im oberen Bereich einer der Hangheiden werden einige größere Felsen sichtbar. Unter einem von ihnen bewegt sich etwas : ein Fuchs! Jetzt setzt er sich in die Sonne. Vor dem „Roten Brummer“ flieht er nicht, er kennt ihn, weiß, daß er unten im Tal bleibt und bald wieder verschwinden wird.
Das Tal wird breiter, die Hangheiden ziehen sich nicht mehr so weit hinauf. Der Schienenbus wird bald die Hochfläche erreichen. - Plötzlich hält er, obwohl es im Schandental keinen Bahnhof, keine Haltestation gibt. Als ich unwillkürlich nach vorne schaue, zum Fahrer, aufstehe, um besser vorne hinaussehen zu können, weiß ich, warum der Bus angehalten hat : Eine Schafherde flutet über einen der unbeschrankten Bahnübergänge. Es dauert einige Zeit, bis die letzten Tiere auf der anderen Seite sind, wo der Schäfer nun die Hand hebt und damit dem Fahrer im Bus das Zeichen zur Weiterfahrt gibt.
Das Tal wird breiter, die Hangheiden ziehen sich nicht mehr so weit hinauf. Der Schienenbus wird bald die Hochfläche erreichen. – Plötzlich hält er, obwohl es im Schandental keinen Bahnhof, keine Haltestation gibt. Als ich unwillkürlich nach vorne schaue, zum Fahrer, aufstehe, um besser vorne hinaussehen zu können, weiß ich, warum der Bus angehalten hat: Eine Schafherde flutet über einen der unbeschrankten Bahnübergänge. Es dauert einige Zeit, bis die letzten Tiere auf der anderen Seite sind, wo der Schäfer nun die Hand hebt und damit dem Fahrer im Bus das Zeichen zur Weiterfahrt gibt.
Auf der Albhochfläche noch etwa eine Viertelstunde Fahrt bis zu dem Bahnhof , wo ich aussteige. Ich gehe bis zur Ortsmitte, wo mir ein Schild den Weg zum ehemaligen Truppenübungsplatz weist. Nach etwa fünf Minuten stehe ich vor einem der Eingänge.
Ich habe mir eine Karte gekauft, auf der ich schon zu Hause im Gebiet des ehemaligen Truppenübungsplatzes unterwegs gewesen bin. Diese Karte nehme ich jetzt aus dem Rucksack und checke noch einmal kurz durch, wie ich wandern werde.
Ich verstaue die Karte wieder im Rucksack, den ich mir auf den Rücken schnalle, und jetzt will ich nur noch gehen, gehen, gehen, und ich weiß: Sobald ich meinen Rhythmus gefunden haben werde, nach kurzer Zeit schon, wird sich das ergeben, was jemand einmal so in Worte gefaßt hat: „Wandern weckt, was in dir steckt!“ Das trifft zwar genau zu, ist allerdings altbacken formuliert und hat so einen Beigeschmack in Richtung „Leibesertüchtigung“. Mir gefällt da ein Wort viel besser, das ich bei einer Tagung zum erstenmal gehört habe. Es handelt sich um das englische Wort „brainstorming“: die Aufforderung , alle Gedanken, die ein vorgegebenes Thema auslöst, aufkommen zu lassen, ohne diese Gedanken zunächst zu ordnen, zu gewichten, zu bewerten, sondern diese Gedanken einfach durch das Gehirn strömen, ja, geradezu stürmen zu lassen.
Und dieses Brainstorming übertrage ich auf die Befindlichkeit, die sich ergibt, wenn ich meinen Rhythmus beim Gehen gefunden habe und ihn lange beibehalte.
Gehen - sehen - denken: ein Dreiklang, aus dem sich immer wieder etwas ergibt, was tief in mir freigesetzt wird, auch längst Vergessenes, ja, auch Verschüttetes, in mir aufsteigt, mich begleitet: Bilder, sehr oft Erinnerungen, in denen vor allem Menschen lebendig werden, auch Menschen, die ich ewig nicht mehr gesehen habe oder die schon längst gestorben sind, aber auch Worte, besonders Worte, die poetischen Texten, insbesondere Gedichten, entsteigen. Dabei erfahre ich dann auch immer wieder das, was einer meiner Lehrer oft gesagt hat: „Poesie kann Lebensbereicherung sein, nicht nur in dem Sinne, daß man Schönes, auch in der Erinnerung, noch intensiver erleben kann, sondern auch in dem Sinne, daß man Dunkles, auch Schmerzliches, in seinem Bewußtsein intensiviert, so daß die Bereicherung darin besteht, daß Erkenntnisse gewonnen werden.“ - Was mir da beim Gehen aus poetischen Texten in den Sinn kommt, ist zum Teil von gestern, aber ich bin auch von gestern, und was mein Leben bereichert, ist zwar oft nicht von gestern, darf es aber schon auch hin und wieder sein.
Ich gehe auf einem Feldweg, und zunächst genieße ich es, meinen Rhythmus gefunden zu haben und genieße auch das Gefühl, endlos gehen, gehen, gehen zu können, und ich empfinde eine tiefe Dankbarkeit dafür, daß ich überhaupt gehen kann, immer noch gehen kann, und zwar rasch und lange, ohne zu ermüden und ohne irgendwelche körperlichen Mißempfindungen, obwohl ich, weiß Gott, nicht mehr der Jüngste bin.
Und da ist plötzlich mein Vater neben mir, hält mit mir Schritt. Wie oft und wie gern ist er zu Fuß unterwegs gewesen! Und von heute auf morgen konnte er nur noch mühsam gehen und hatte Schmerzen bei jedem Schritt!
Und ich höre ihn neben mir sagen: „Gehen, Junge, gehen mußt du, jeden Tag, gehen mußt du, solange du noch kannst!“ – Und mir fällt ein, daß einer meiner Lehrer immer wieder gesagt hat: „Es ginge vieles besser, wenn man mehr ginge.“
Der Weg führt auf ein Waldstück zu: Buchen vor allem, einige Eichen, zwischen den Bäumen Schatten, gedämpftes Licht. – Über eine leichte Kuppe hinweg komme ich wieder aus dem Wald heraus. Weit dehnt sich vor mir offenes Gelände, rechts, nicht weit entfernt, die erste Schafherde.
Nach etwa zehn Minuten biegt der Weg nach links ab, führt wieder ein Stück weit durch einen Wald, danach öffnet sich vor mir ein ziemlich breites Hochtal, auf den Abhängen, die sich links und rechts zur Talsohle hinabschwingen, Wacholderbüsche, viele hohe, aber auch niedrige, und immer und immer wieder schaut der blanke Fels aus dem Boden: eine Vielzahl von Felskuppen, die aus dem spärlichen Heideboden ragen und auf den massiven, durchgehend felsigen Untergrund hinweisen. Zwischen den Wacholderbüschen blüht es hie und da: weiß, gelb oder blau, und an manchen Stellen duckt sich zwischen den Felskuppen eine Silberdistel, die so ganz besonders charakteristisch ist für die Schwäbische Alb. – Einige Zeilen aus einem Gedicht von Hermann Hesse fallen mir ein:
„Bezaubert scheint die Welt, gebannt zu sein in Schlaf,
in Traum, und warnt dich, sie zu wecken.“
Was für ein Licht auf den Heideflächen! Über eine von ihnen ziehen die ersten Schafe einer weiteren Herde, aus dem wolkenlosen blauen Sommerhimmel der Schrei des Bussards. Es ist Hochsommer, und es ist heiß, aber nicht drückend heiß, denn auf der Albhochfläche ist immer Wind, der mich immer wieder berührt, so daß ich nicht sehr ins Schwitzen komme.
Als ich das Hochtal verlassen habe, überquert eine Betonstraße meinen Weg. Da mir bisher gar nie bewußt gewesen ist, daß ich mich in einem ehemaligen Truppenübungsgelände befinde, fällt mir gar nicht gleich ein, daß auf dieser Betonstraße früher Panzer gefahren sind und wohl auch Geschütze transportiert worden sind. - Ich bin in einem Städtchen aufgewachsen, das nicht allzu weit von diesem Truppenübungsplatz entfernt ist, und ich kann mich noch gut daran erinnern, wie ab und an Geschützdonner von der Albhochfläche her zu hören war, auch nachts. Als ich dieses dumpfe, bedrohlich wirkende Gedröhn zum erstenmal gehört habe, habe ich meine Mutter ängstlich gefragt, ob ein Gewitter komme, und sie hat mir geantwortet: „Nein, nein, da schießen sie wieder auf der Alb. Das ist weit weg, und die machen das auch nur zur Übung, auch bei Nacht, im Krieg wird ja in der Nacht auch geschossen.“
Nachdem ich noch einmal eine Zeitlang durch den Wald gewandert bin, komme ich in ein Gebiet, in dem sich mehrere kahle, felsige Kuppen erheben. Zwischen zwei von ihnen stehen Bäume, deren mächtige, dichte, weit ausladende Kronen einen recht großen Schatten werfen. Das müssen Weidbuchen sein. Ich habe gelesen, daß sie häufig mehrere Stämme haben, da sie in jungen Jahren von weidenden Schafen verbissen werden.
Hochsommer, im kühlen Baumschatten sitzen, damals im Schatten einer Kiefer, die in einer Waldheide gestanden hat, in einer Heide, die sich in einen Wald hineingezogen hat, nicht weit entfernt von jenem Dorf auf der Alb, wo ich als junger Lehrer in der Dorfschule unterricht habe.
Das ist einer meiner Lieblingsplätze gewesen, unter dieser Kiefer. Und die Kiefer hat neun dicke, kräftige Äste gehabt. Und sie hat einen ebenso großen Schatten geworfen wie eine Weidbuche.
Und jetzt seh ich dich neben mir im Gras sitzen: Indianermädchen, Indianerfrau, mit den schwarzen Haaren, mit den geheimnisvollen bernsteinfarbenen Augen! Höre mich zu dir sagen: „Schau mal nach oben!“ Und als du dann nach oben geschaut hast: „Siehst du die dicken Äste? Zähl sie mal!“ – Höre dich dann lachend antworten: „Neun sind es, was soll's denn?“ „Das ist die neunköpfige Hydra! Paß bloß auf!“ – „Spinner!“ hast du gesagt. Und wie du das gesagt hast, das hat mich mehr in Stimmung gebracht, hat mir mehr Mut gemacht, als der Rotwein, den wir aus dickwandigen Saftgläsern getrunken haben.
Dein Glas hast du mit beiden Händen gehalten, und als ich ganz versonnen auf deine Hände geschaut habe: „Was schaust du meine langen Finger so an?“ „Sie sind schlank wie du. – Du könntest jeden Ring tragen!“ Und noch einmal dieses Wort: „Spinner !“ Und noch einmal in diesem Ton!
Da hab ich dir in die Augen gesehen, so lange wie noch nie zuvor, und gedacht: „Wenn sie es noch einmal sagt, küß ich sie.“
Das Weißbrot, das wir gegessen haben, haben wir uns vom Laib gebrochen, und auf einem Brett hab ich Scheiben von einem großen Stück Käse geschnitten. Eine ganze Weile haben wir schweigend gegessen und getrunken, aber unsere Blicke haben sich oft getroffen. – Und ich habe an eine Ballade von Eduard Mörike gedacht, in der die Königstochter Schön – Rotraud zu ihrem jungen Jäger, mit dem sie im Wald allein ist, sagt : „Wenn du das Herz hast, küsse mich!“ – Bisher hatte ich noch nicht das Herz gehabt, dich zu küssen, aber jetzt!
Schließlich hab ich wieder zu reden begonnen: „Wenn du als Indianermädchen aufgewachsen wärst, eine Indianerfrau geworden wärs…“ „Was wäre dann gewesen?“ — „Dann hättest du nicht Isolde geheißen.“ — „Sondern?“ — „Du hättest einen Indianernamen gehabt.“ „Welchen denn, welchen hättest du mir gegeben?“ „Ich hätte dich Schönes Haar genannt.“ — Wie groß deine Augen gewesen sind, deine bernsteinfarbenen Augen! Und als dein Blick „Spinner!“ gesagt hat, da hab ich dich geküßt.
Ich komme an eine Weggabelung. Den Hinweisschildern kann ich entnehmen, daß ich den Weg, der nach rechts führt, wählen muß, und ich weiß, daß dieser Weg nach sieben Kilometern an einem der Ausgänge des Truppenübungsplatzes enden wird.
Der Weg führt jetzt über eine der Kuppen. Ich steige aufwärts zwischen niedrigen Wacholderbüschen; oben auf der Kuppe sind sie so niedrig, daß sie dicht über dem Boden zu kriechen scheinen. „Urweltkröten“, so nennt Arno Holz in einem Gedicht solche niedrigen Wacholderbüsche.
Unterhalb der Kuppe: Schafe, Schafe auf beiden Seiten des Wegs, und da, links, etwas abseits von der Herde, steht der Schäfer. Auch jetzt, im Sommer, trägt er seinen Hut und seinen Mantel, den er aber nur um die Schultern gehängt hat, und er stützt sich, wie es sich gehört, auf seine Schippe. Er kennt jedes Tier seiner Herde. Vor ihm sitzen seine beiden Hunde. Ich winke ihm zu, er winkt zurück. – Und erst jetzt, ich habe die Kuppe bereits hinter mir, schaue ich auch nach rechts. Und da bleibe ich stehen, was sonst nie vorkommt, wenn ich einmal meinen Marschrhythmus gefunden habe. Wie angewurzelt stehe ich da. Da fährt doch, ein Stück vom Weg entfernt, inmitten der Schafe, nein, er fährt nicht, aber da steht leibhaftig ein richtiger Panzer, ein Panzer zwischen den grasenden Schafen — Krieg und Frieden.
Da steht er, stählerner Totmacher, und rostet vor sich hin — Und da bin ich wieder ein Kind, höre Panzer fahren, höre dieses unverwechselbare Fahrgeräusch, höre den trockenen Knall einer Panzerkanone, bin der siebenjährige Bub, der im Keller sitzt mit seiner Mutter und seiner Schwester, mit den Großeltern. Und draußen ein Panzer nach dem anderen: Einmarsch des „Feindes“ in die Stadt. Der Siebenjährige, starr und stumm in seiner Angst, sieht den „Feind“ nicht, er hört ihn, hört seine Panzer, seine Panzerkanonen, hört auch Maschinengewehrfeuer, hört die Panzerfaust: nächtlicher Straßenkampf.
Und am nächsten Morgen wird der Siebenjährige noch einmal starr und stumm, denn da liegt einer, noch keine zwanzig, vor dem Gartentor auf dem Bürgersteig, die Hände noch um den Schaft der Panzerfaust gekrallt.
Und dieser Panzer hier steht ganz still da. Ich höre nur die Freßgeräusche der Schafe.
Brecht fällt mir ein, das Gedicht vom Tank. Brecht hat das Gedicht 1938 geschrieben, damals wurden die Panzer auch noch Tanks genannt:
„General, dein Tank ist ein starker Wagen.
Er bricht einen Wald nieder und zermalmt hundert Menschen.
Aber er hat einen Fehler:
Er braucht einen Fahrer.“
Das Gedicht hat drei Strophen, die beiden anderen fallen mir nicht mehr ein, auch im Weitergehen nicht. Ich weiß aber, daß Brecht in der zweiten Strophe ein Bombenflugzeug erwähnt, schneller als ein Sturm, das den Fehler hat, einen Monteur zu brauchen.
„General, der Mensch ist sehr brauchbar.
Er kann fliegen und er kann töten.
Aber er hat einen Fehler :
Er kann denken.“
In einer langgezogenen Senke zwischen zwei Kuppen blüht es in einer Wiese in allen Farben, blüht auch noch in ein Hochtal hinein, in das die Senke mündet. – So sahen die Wiesen in meiner Kindheit aus, als noch keine Chemie die Natur vergewaltigte.
Der Weg, eher ein Pfad, verläuft am Hang des Hochtals, links von mir leuchten unzählige Blumen aus dem Wiesengrün: weiße Margeriten, blauer Wiesensalbei, rote Kuckucksnelken, gelber Hahnenfuß und viele andere. – Schmetterlinge gaukeln über die Wiese.
Der Pfad führt mich durch eine ausgedehnte Hangheide. Die Wacholderbüsche sind oft mehr als mannshoch. Der Duft von Kräutern, die die Schafe kennen, ich aber nicht, steigt mir in die Nase. Mein Tritt verscheucht eine Eidechse, die sich auf einem der zahllosen Felskuppen gesonnt hat.
Nach dem Hochtal wieder offenes Gelände, durch das in einiger Entfernung eine Schafherde zieht, wohl jetzt auf dem Weg zu einem Pferch oder Stall, denn so langsam wird es Abend, die Sonne steht schon ziemlich tief. – Die Hunde des Schäfers sind hinter, neben den Schafen, treiben sie vorwärts, verhindern, daß sie grasen, halten die Herde zusammen. Der Schäfer, auch er wieder mit Hut und Mantel, geht vor der Herde, benutzt seine Schippe als Gehstock.
Bei den Bauern der Schwäbischen Alb waren die Schäfer noch in den fünfziger Jahren hoch angesehen. Das habe ich erfahren, als ich einmal in einem Wirtshaus mit Bauern zusammengesessen bin. Da haben alle mit Hochachtung vom Albschäfer gesprochen.
„Der Schäfer, der sieht mehr als andere“, hat es da geheißen. „Und er hört oft mehr als andere. Er weiß auch oft mehr als andere, ist viel herumgekommen, mehr als wir. – Und einen sicheren Blick hat er für das Wetter. Der sieht es seinen Schafen an, ob Regen kommt oder Schnee. – Der macht sich seine eigenen Gedanken über Gott und die Welt.“
Einem Hinweisschild entnehme ich, daß ich nach einigen wenigen Kilometern an einem der Ausgänge des Truppenübungsplatzes ankommen werde. – Ich bin nun auch lange genug gewandert, und das spüre ich auch jetzt in den Beinen.
Kurz vor dem Ausgang bleibe ich stehen, drehe mich um, blicke zurück. „Ich werde wiederkommen“, denke ich.
Fünf Minuten nach dem Ausgang erreiche ich ein Dorf. Dort warte ich auf den Linienbus, der mich zu meinem Wohnort bringen wird.