Rittermahl

„Es ist jetzt 2O Minuten nach fünf“, sagt der Busfahrer zu dem grauhaarigen Bebrillten neben ihm, „können wir? Ich denke, es sind alle da.“ Der Bebrillte schaut nach draußen, dann in den Bus hinein, wo sie Kopf an Kopf sitzen, meist Ältere: Rentner, viele Ehepaare, dazwischen einige Singles und Paare in mittlerem Alter, ein paar Jugendliche. „Da kommt niemand mehr, und wenn, selber schuld; wir können.“

Der Busfahrer läßt den Motor an, legt den Gang ein; der Bus rollt vom Schulhof, wo sie alle eingestiegen sind, die zum Rittermahl fahren, die ein Rittermahl gebucht haben beim Omnibusunternehmen.

Während der Bus durch einige Straßen fährt, ein paarmal abbiegt und schließlich das kleine Städtchen verläßt, schwillt das Stimmengewirr noch an, überlagert von Lachern, teils polternd bis zum Fußboden hinunter, teils leicht über die Köpfe hinweghüpfend und an den Scheiben verebbend. Gesprächsfetzten heben sich immer wieder vom Wabern der Stimmen ab. Manchmal kann man erraten, worum es geht: Benzinpreis, Bürgermeister, Bundesliga, Aktienkurse, Asylbewerber, eine Scheidung, Rheuma, Bandscheiben, Blutdruck, eine Kur.

Der Bus wird langsam, muß im Schrittempo eine Straßenbaustelle passieren: dicht neben dem Bus einige Arbeiter mit dunklem Teint, schwarzem Haar, Schnurrbärten. – Einer der Businsassen richtet sich steil auf und ruft in Richtung Arbeiter – als ob sie das hören könnten : „Rapoti, rapoti!!“ Und er stößt seinem Nebenmann mit dem Ellbogen in die Seite, und der ruft : „Dawai , dawai !“ - Warum die beiden wohl russische Wörter rufen? Wann und wo sie das wohl wem so zugerufen haben? Vor dreißig, vor fünfunddreißig , vor vierzig Jahren ?  -  Es könnte hinkommen, die beiden sind so Mitte siebzig.

Als der Bus wieder mit normaler Geschwindigkeit fährt, ruft jemand laut   im Befehlston von hinten nach vorne: „Cassette einlegen !“ - Kurz darauf schallt es durch den Bus: „Schwarzbraun ist die Haselnuß.“ - Die ersten singen mit, eher Frauen; immer mehr fallen ein. Nach mehreren Liedern: Pinkelpause.

Als der Bus weiterfährt, bricht langsam die Dämmerung herein. – Der Bebrillte neben dem Busfahrer kräht Witze ins Mikrofon: „Kommt eine Frau zum Arzt…“ Nach einer Weile schiebt sich einer von hinten nach vorne, nimmt dem Bebrillten das Mikrofon aus der Hand: „Also, ein Schwede, ein Deutscher und ein Pole treffen sich. Sagt der Schwede: „Schwedenstahl !“ Sagt der Deutsche: „Kruppstahl !“ Ruft der Pole: „Diebstahl !“ – Schallendes, wieherndes, gickerndes Gelächter.

Als man am Zielort ankommt, ist es schon fast dunkel. – Man entsteigt dem Bus, kommt in ein Gasthaus, durch einen Nebeneingang. Nach einem langen Gang steigt man Treppen hinunter und betritt ein geräumiges Gewölbe. - Unter den beiden Gewölbebogen, links und rechts von zwei Steinsäulen, stehen lange, massive Holztische mit vielen Stühlen. Die Tische sind gedeckt mit Tontellern, hölzernen Löffeln und Messern. Die kahlen Wände sind rauh verputzt; vor der Stirnwand steht eine Ritterrüstung, an einer der Längsseiten ein hölzerner Käfig.

Man setzt sich, Stimmengewirr, Lachen. - Nach kurzer Zeit erscheint ein älterer Mann, der ein zerschlissenes Barett trägt und mit einem weinroten, abgetragenen Wams aus Samt sowie gelben Strumpfhosen bekleidet ist. Er bittet um Gehör und verkündet in altertümlichem Deutsch die Tischregeln: keine Gabeln , sie seien des Teufels, Suppe und Beilagen esse man mit dem Holzlöffel, die Messer seien nur zum Schneiden des Fleisches da, ansonsten esse man Fleisch und Fisch mit den bloßen Händen, die man sich hin und wieder in mit Wasser gefüllten Schalen waschen könne. – Bier heiße Gerstensaft. -  Rülpsen  und Furzen nach dem Essen sei erwünscht. - Wer sich eine Zigarette oder Zigarre mit einem Feuerzeug anzünde und nicht mit einem Streichholz, wer Fleisch oder Fisch nicht mit den Händen esse, wer „Bier“ statt  „Gerstensaft“ sage, wer vor dem Essen oder während des Essens rülpse oder furze, wer „Guten Appetit !“ statt „Gesegnete Mahlzeit !“ sage, komme in den Pranger, und der Herold weist mit ausgestrecktem Zeigefinger auf den Holzkäfig, aus dem man erst dann erlöst werden könne, wenn man mit lauter Stimme einen Zweizeiler vorgetragen habe, wobei dieser Zweizeiler schon eine gewisse Originalität aufweisen müsse. „Ich sitze hier und schneide Speck, und wer mich liebhat, holt mich weg !“ zum Beispiel sei ganz sicher nicht originell genug und führe nicht zur Befreiung aus dem Pranger. - Und nun mache man noch „bunte Reihe“ . Jeder Mann erhalte ein Kärtchen, auf dem ein männlicher Name stehe, jede Frau ein Kärtchen, auf dem ein weiblicher Name stehe. Es müßten sich dann Paare zusammenfinden, zum Beispiel Adam und Eva, Hänsel und Gretel, und man habe dann paarweise an den Tischen Platz zu nehmen.

Es dauert eine ganze Weile, bis die Kärtchen verteilt sind und bis sich die Paare gefunden haben. - Als schließlich alle sitzen, tragen einige als Mägde verkleidete Mädchen, vollbusig, mit weitem Ausschnitt, in großen Töpfen die Suppe auf, die in die Teller geschöpft wird. Zur Suppe werden genetzte Wecken gereicht. - Der Herold schreitet langsam an den Tischen entlang, um etwaige Sünder zu ertappen. - Nachdem die Suppe gegessen ist, kann man Getränke bestellen. Dabei sündigen die ersten, die - zum Teil wohl absichtlich - „Bier“ statt „Gerstensaft“ sagen. - Immer wieder wird einer, es sind nur Männer, vom Herold in den Pranger gesperrt. - Die Zweizeiler sind immer wieder schlüpfrig und werden meist genüßlich vorgetragen : „Ein bißchen Spaß muß sein, sprach Wallenstein, und schob die Eier mit hinein !“ Dröhnendes, juchzendes Männerlachen, böse Blicke, Kopfschütteln auf seiten der Frauen.

Als der zweite Gang, gebackener Fisch, zu Ende ist und mancher schon die dritte Halbe Gerstensaft vor sich stehen hat, wird der Hauptgang aufgetragen. Er besteht aus zwei Sorten Fleisch: Schwein und Rind mit vier verschiedenen Beilagen, zwei Arten von Knödeln, Nudeln, gebackenen Küchlein.

Es sind immer mehr von den Anwesenden im Pranger gelandet, darunter auch Rülpser und Furzer, und nun steht ein junger Mann im Käfig, der offensichtlich bereits erheblich angetrunken ist: feist – verschwitzte Visage, goldenes Kettchen um den Hals. „Fressen, s – saufen und ficken, t – tun des Ritters Herz er – erquicken !“ tönt es,  teils lallend, zwischen den Gitterstäben hindurch in das Gewölbe hinein.

Schließlich gibt es noch mehrere Sorten Käse, dazu noch einmal genetzte Wecken. - Immer öfter wird jetzt Wein getrunken, und immer öfter hört man es so manchem an, daß er zu viel Gerstensaft bzw. Wein hinuntergegossen hat. Immer weniger kommen in den Pranger, der für viele schon seinen Reiz verloren  hat. – Nur einmal steht eine Frau im Käfig. Sie befreit sich mit einem „männlichen“, abgedroschenen Zweizeiler: „Wer nicht liebt, Wein, Weib und Gesang, der bleibt ein Narr sein Leben lang !“

Es ist 23 Uhr, als man schließlich aufbricht, und es dauert, bis wieder alle im Bus sitzen: Stimmengewirr, Lachen, noch ein paar Rülpser, die kaum noch zur Kenntnis genommen werden.

Als der Bus schon eine ganze Weile unterwegs ist, legt sich das Stimmengewirr langsam; einige schlafen. – Von hinten stimmt einer das Lied an, singt zuerst ziemlich leise, etwas verhalten, wird dann lauter und lauter, und viele fallen ein, laut, immer lauter; es ist ja dunkel, wer weiß schon, wer als erster gesungen  hat, wer mitsingt. Es sind lauter alte Männer, die das Lied im Bus singen. In ihrer Jugend haben sie es in braunen Uniformen gesungen: „Es zittern die morschen Knochen…“

Wolfgang Braun (2004)