Slawische Seele

Er saß auf einer Bank im Schatten einer der Kastanien, die im Halbkreis den  leise plätschernden  Brunnen umgaben.

Es war recht heiß. Er dachte an nichts Besonderes; er nahm nur den Brunnen wahr und das, was er dort sah : Kinder, die mit Stecken im Wasser herumstocherten, sich gegenseitig anspritzten, später einige Wanderer mit Rucksäcken auf dem Rücken, die ihre nackten Arme bis über die Ellenbogen ins Wasser hineinstreckten, schließlich, als gerade niemand am Brunnen war, Tauben, die in einem kleinen Pulk anflogen, dann auf dem Brunnenrand saßen und mit kleinen Schlückchen aus dem Brunnen tranken. – Er schloß die Augen und döste vor sich hin.

Nach einer Weile öffnete er die Augen wieder; am Brunnen stand jetzt ein junges Mädchen : schlank , dunkelhaarig, das schmale Gesicht ihm zugewandt, in T-Shirt und Jeans.

Sie tauchte die Hände ins Wasser und ruderte im Halbkreis hin und her. –   Er hatte dieses Gesicht schon einmal gesehen, aber wo? – Als sie sich zur Seite wandte, sah er ihr Profil, das ihm ebenfalls bekannt vorkam. – Wo hatte er dieses aparte Gesicht schon einmal gesehen? – Er ging in Gedanken durch, was er letzte Woche so alles getan hatte, wo er gewesen war, wem er begegnet war. – Da fiel es ihm ein; es mußte die junge Russin sein, die kürzlich im Kreuzgang des nahen Klosters mit drei jungen Frauen und drei jungen Männern zusammen gesungen hatte : russische Kirchengesänge im ersten Teil des Konzerts und im zweiten Teil russische Volkslieder. – Auf dem Plakat, auf dem das Konzert der jungen russischen Musikstudenten angekündigt worden war, hatte er von einem vierzehntägigen Aufenthalt der jungen Leute in der Stadt gelesen. Außerdem hatte fettgedruckt auf dem Plakat gestanden : „Slawische Seele“, was außerordentlich gut zu den Darbietungen der Gruppe paßte, die ohne jede Begleitung gesungen hatte.

Er schloß die Augen und erlebte das Konzert noch einmal in seiner Erinnerung : Über dem Boden des Kreuzgangs schwebt die Klangfülle der herrlichen Stimmen, steigt empor an den Wänden, den Pfeilerbündeln und den Gurtbogen des Kreuzgewölbes, den Schildbogen der Spitzbogenfenster, dringt durch die Öffnungen im Maßwerk der Fenster ins Freie hinaus und senkt sich auf die Rasenflächen und Wege des Klostergartens. – Aus tiefstem Inneren kommen diese Stimmen.  Die Mimik der Sängerinnen und Sänger paßt sich den Melodien an: den schwermütig – dunklen Klängen der Kirchengesänge und einiger Volkslieder genauso wie auch manchen anderen vor praller Fröhlichkeit fast berstenden Scherz – Neck – und Tanzlieder. – Er hat weitgehend die jüngste Sängerin im Auge: ihr Gesicht, ihr Haar, ihre Gestalt. Während sie singt, berührt ihn ihre Stimme, ihre Ausstrahlung, so sehr, daß er den Blick fast nicht mehr von diesem jungen Mädchen wenden kann.

Als er die Augen wieder öffnete, stand sie immer noch am Brunnen; eben schüttelte sie das Wasser von ihren Händen.

Aufstehen, zu ihr hingehen, ohne etwas zu sagen ihre Hand nehmen, mit ihr weggehen, durch den Schatten der Kastanien, ein Stück weit mit ihr auf dem gekiesten Weg in der prallen Sonne gehen, durch die Klosterpforte in den kühlen Kreuzgang hinein und dort mit leicht hallenden Schritten mit ihr gehen, einfach nur gehen, gehen mit diesem anmutigen Wesen an der Seite.
Während er, noch ganz in Gedanken versunken, zu ihr hinübersah, bemerkte er plötzlich einen jungen Mann, der zu der jungen Russin trat. Es war wohl einer der jungen Männer, die zum Ensemble „Slawische Seele“ gehörten. – Die beiden lächelten sich zu , und sie spritzte ihn ein wenig mit Wasser aus dem Brunnen an.

Und dann, dann nahm der junge Mann ihre Hand, und sie gingen zusammen weg: durch den Schatten der Kastanien, ein Stück weit auf dem gekiesten Weg in der prallen Sonne, durch die Klosterpforte in den Kreuzgang hinein…